Familienvarianten

Wir sind gemeinsam eingeladen zu diesem 60.ten Geburtstag. Den Jubilar kannte ich bis dahin nicht persönlich, hatte aber sein Buch, welches er über sich geschrieben hatte, gelesen.

Auch viele andere Gäste kenne ich nicht. Entweder sind sie aus seiner Arbeitsumgebung oder Kirchgemeinde. Auch einige Schüler sitzen mit an den hübsch dekorierten Tischen.

Aber dann geht der Nachmittag und Abend kurzweiliger vorüber, als erst befürchtet. Und da wir – meine Frau und ich – gerade einen Tanzkurs absolvieren, konnte ich ohne Sorge, mich zu blamieren, da auch mitmachen.

Eine Theatergruppe spielt Sketche vor. Es wird viel gelacht, Persönliches vorgetragen. Und natürlich gut gespeist…

Der Halbbruder

Auf einmal sitzen sie mit an unserem Tisch. Ein Paar, welches erst später in den Kreis der Feiernden gestoßen war. Irgendwie verwandt mit dem Jubilar.

Da er auch eine Canon-Spieglreflexkamera hat, kommen wir über Vorzüge und Nachteile von Objektiven ins Gespräch. Und landen dann beim Verwandtschaftsgrad. Er sei der Bruder vom Geburtstagskind. Besser gesagt, der Halbbruder.

Ich frage nach. Ja, das sei alles nicht ganz einfach gewesen. Seine Eltern bekamen vier Kinder, er war dabei. Aber dann hätte der Vater noch zwei andere Kinder nebenbei „zu laufen“ gehabt – einer davon sei der heutige Gastgeber.

Und ja – kennen gelernt hätten sie sich erst viele Jahre später. Da wäre er mal mit seinem Vater und der neuen Lebensgefährtin bei diesem Halbbruder zu Besuch gewesen. Aber er hätte nicht erzählen dürfen, dass es sein Bruder sei. Der sollte das nicht wissen. Daher würde er ihn schon viel länger kennen, als umgekehrt der Fall war. Das wurde wohl erst vor einigen Jahren offen gelegt…

Schon traurig, wenn man als Außenstehender solche Interna erzählt bekommt.

Ehefrau Nummer One

Dann frage ich nach seiner Familie. Er habe vier Kinder. Äh, nicht von einer Frau. Das wäre mit der ersten nicht so gut gegangen. Die habe sich dann gar nicht mehr um ihn gekümmert, wollte allerdings immer das Sagen haben. Das wurde immer schwieriger, passte aber gar nicht mehr zusammen. Er wäre viel beruflich unterwegs gewesen, sich aber dann gar nicht mehr auf zu Hause gefreut, weil immer Streit war. Nach elf Jahren dann die Scheidung. Sie bekam die beiden Kinder.

Der zweite Versuch

Dann hätte er als „Ersatz“ sich in die Nächste verliebt. Und wieder kamen zwei Kinder. 20 Jahre später dann wieder die Scheidung. Vorher hätten sie schon sieben Jahre getrennt gelebt. Nein, sie hätte ihn wohl gern gehabt, aber nie geliebt. Das reicht dann nicht für eine wirkliche Beziehung. Dann lieber getrennte Wege gehen.

Nr. 3

Ob er denn jetzt glücklich wäre mit dieser netten, schwarzhaarigen Dame, die mit uns am Tisch sitzt. Er schmunzelt und meint: „Diesmal habe ich es andersherum gemacht. Zuerst haben wir einige Jahre zusammengewohnt. Und jetzt vor ein paar Jahren geheiratet.“

Ja, es würde ganz gut gehen.

Und wie käme er mit seinen Eltern klar? Der Vater wäre verstorben, von seiner Mutter wüsste er gar nicht, ob sie noch leben würde. Das würde ihn auch nicht interessieren. So, wie die ihre Kinder – und auch ihn – behandelt und belogen hätte. Sogar kriminell sei sie gewesen, auch einige Zeit im Knast gesessen.

Bei irgendeiner harten Auseinandersetzung habe er sich von ihr losgesagt. Und ja, er könne damit leben…

Schock

Ich sitze da am Tisch, ringsherum unterhalten sich die Gäste, erzählen und lachen. Und vor mir sitzt ein Scherbenhaufen an Zerbruch, Streit, Kindheitstraumata und Beziehungsdurcheinander.

Ich ahne, dass seine Kindheitserlebnisse ihn prägten, selber fast beziehungsunfähig machten. Klar, wenn einem Jungen vorgelebt wird, dass Trennung als Folge von Konflikten die scheinbare Lösung sei – dass dieser Junge das Prinzip unbewusst natürlich weiterlebt.

Nein, nur weil ich selbst schon mehr als drei Jahrzehnte verheiratet bin, wage ich kein Urteil. Aber er tut mir doch sehr Leid.

Wie war noch mal das Projektziel?

Und ich denke: Das alles hat sich Gott einst ganz anders gedacht. Wenn er sagt: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“

Wir würden ihm da vielleicht öfters widersprechen, wenn wir die ganzen Konflikte sehen, die die Zweisamkeit oft anrichtet. Und die Folgen.

Aber halt: Es ist nicht die Zweisamkeit, es sind nicht die Umstände, es ist auch nicht der hohe Benzinpreis. Es ist diese verdammte Unabhängigkeit, die wir Menschen meinen, von Gott haben zu müssen. Das fing bei Adam und Eva an, das hört bei Kevin und Leah auf. Und bei Andreas.

Und ja – ich glaube, dass es auch heute noch gelingende Ehen und Beziehungen geben kann. Zurück zum eigentlichen Sinn einer Partnerschaft. Nicht Selbstverwirklichung, nicht das Durchdrücken der eigenen Interessen, sondern das Wohl des geliebten Partners muss wieder das Ziel sein. Paulus hat es mal so formuliert: „Einer den Anderen höher achten als sich selbst“.

Und wie soll das gehen?

Ich will es an einem anderen Beispiel erzählen: Ein Kollege erzählt mir in der Mittagspause, als wir am Rhein spazieren gehen, dass nur noch die beiden Kinder sie zusammenhalten. Ansonsten wäre ihr Verhältnis sehr distanziert, wortkarg und kühl geworden.

Immer wieder treffen mich solche Aussagen. Und ich habe angefangen, jeden Morgen auf der Autofahrt für diese Ehe zu beten. Dass Gott neues Verständnis schenkt. Aussprachen über Liegengebliebenes. Motivation, dem Anderen Gutes zu tun. Kleine Schritte zu gehen. Und von göttlicher Liebe angerührt zu werden.

Bin gespannt, was da passiert. Denn Gott hört Gebet. Und wird, und muss sich was einfallen lassen, dass nicht alle Projekte dieser Art flöten gehen.

Wie gesagt, ich bin gespannt. Und das nimmt ein wenig die Traurigkeit über die vielen anderen „Fälle“, die oft auch nicht gelingen. Weil wir es zu oft selbst versuchen, anstatt uns Hilfe vom Erfinder der Ehe zu holen…